Bernhard Morbach (1949-2021)

Zur Erinnerung an Bernhard Morbach ein Interview, das ich 2012 für das Festival "zeitfenster" mit ihm geführt habe. R.I.P.

»Wer Ohren hat zu hören…«

Gespräch mit Bernhard Morbach über den Status der Alten Musik, die Rolle von Tonträgern und neue Konzertformen

 

Herr Morbach, als Rundfunkredakteur und Moderator begleiten Sie seit mehr als drei Jahrzehnten sehr eng die Entwicklung der Alten Musik. Können Sie uns erklären, was eigentlich Alte Musik ist?

Der Begriff ist schlechterdings nicht definierbar, es gibt allerdings ein paar Versuche in dieser Richtung. Die sinnvollste Erklärung stammt meiner Meinung nach von Andreas Holschneider, dem damaligen Chef der Archiv-Produktion, der gesagt hat: »Alte Musik ist Musik mit unterbrochener Aufführungstradition«. Das ist für mich eine zwar subjektive, aber sehr einleuchtende Eingrenzung des Phänomens. Gemeint ist also jene Musik, die dem Fortschrittsdenken zum Opfer gefallen ist und die jetzt allmählich wiederentdeckt wird. Folgt man dieser Definition, so reicht die Alte Musik bis etwa zu Bach und Händel, deren Werke zumindest zu einem Teil durchgängig oder nur mit kurzen Unterbrechungen rezipiert wurden. – Wenn man diese Alte Musik heute wiederentdeckt, dann bedeutet das, dass man sich auch darum kümmern muss, wie diese Musik damals aufgeführt wurde. Für das Mittelalter und die Renaissance ergeben sich dabei große Interpretationsspielräume, die vernünftig gefüllt werden müssen. Auf diese Weise ist die Alte Musik nicht ausschließlich historisch, sondern zu einem großen Teil auch Neue Musik, indem ein Musiker unserer Zeit notwendigerweise seine Kreativität einbringen muss. Darin liegt die große Vitalitätschance der Alten Musik. Eine alternative Definition stammt übrigens von Ton Koopman, der einmal äußerte, dass für ihn die Alte Musik mit der Französischen Revolution endet, also an das »Ancien Regime« im weitesten Sinne gebunden ist und deshalb heute nicht mehr ihre ursprüngliche Funktion innehat, sondern umfunktioniert werden muss. Die Musik ist also nicht mehr an Zeremonien, Riten, Institutionen und Auftraggeber gebunden, sondern nur noch an uns. Den Kontext der bürgerlichen Musik, der für die Entstehung der Musik nach der Französischen Revolution maßgeblich ist, erleben wir dagegen noch heute.

 

Gehört die Alte Musik heute inzwischen zur etablierten Kunst?

Ja, sie ist leider im etablierten Konzertbetrieb angekommen, denn sie findet immer häufiger im typisch bürgerlichen Konzertambiente statt, das seinen Ursprung im 19. Jahrhundert hat, und man hört sie bisweilen in Sälen, die viel zu groß dimensioniert sind. Das ist eine problematische Situation, die man aber nicht aus der Welt schaffen kann.

 

Die Alte Musik hat für eine ungemeine Repertoireerweiterung gesorgt. Kann das noch endlos weitergehen?

Die Neugierde nach neuer Alter Musik ist nach wie vor ungebrochen, und sie kann sicher noch viele Generationen durch Ausgrabungen befriedigt werden. Die Schätze sind also noch längst nicht geborgen. Man darf sich dabei natürlich nicht der Illusion hingeben, dass man unbegrenzt hochqualitative Musik ausgraben kann, die danach im Beethovenschen Sinne zum Standardrepertoire erhoben wird. Das wird es in der Alten Musik nicht geben. Es geht vielmehr darum, mit dem Fundus der überlieferten Musik vernünftig zu korrespondieren.

 

Inzwischen hat sich das Repertoire der historischen Aufführungspraxis ja sehr stark ausgeweitet...

Dass sich die historische Aufführungspraxis inzwischen auf Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausweitet, ist sinnvoll, weil sich die Komponisten ja von den Instrumenten ihrer Zeit haben inspirieren lassen Man muss aber zwischen dieser Form der Aufführungspraxis und der Alten Musik in den von mir genannten Definitionen deutlich unterscheiden.

 

Wie weit darf denn ein Interpret mit seinen Vorstellungen in das Original eingreifen?

Wenn Alte Musik also ein Dialog mit der Vergangenheit ist, dann muss man – um im Bild zu bleiben – von Fall zu Fall entscheiden, wie lang oder kurz ist die Frage und wie lang oder kurz ist die Antwort. Das ist von der Musik und den Interpreten abhängig. Jordi Savall beispielsweise würde immer behaupten, dass er auf historischer Grundlage Neue Musik macht. Das wird ja schon im Ensemblename Hesperion XXI deutlich – Alte Musik des hesperischen Kulturkreises wird im 21. Jahrhundert dargeboten. Es kommt darauf an, wie intensiv man sich auf die Quellen einlässt und aus welcher Motivation man die Musik wiederbeleben möchte. Da gibt es auch manche Ensembles, die sich eher oberflächlich an bestimmte Moden anschließen. Generell ist dazu allerdings noch zu sagen, dass wir uns hier auf dem Gebiet der Ästhetik und nicht der Ethik befinden. Es darf also nicht die Frage sein, was erlaubt ist, sondern es geht darum, wie die Interpretationen ästhetisch überzeugen können.

 

Wie war Ihr erster Kontakt zur Alten Musik?

Die ersten Kontakte zur Alten Musik waren Schallplattenproduktionen aus der Reflexe-Reihe sowie aus den Reihen »Das alte Werk« und »Archiv Produktion«, die ich 1969 zu Beginn meines Studiums in Saarbrücken gehört habe. Diese Musik wurde allerdings damals nicht besonders ernst genommen, man war ja an der Universität ganz vom Fortschrittsglauben beseelt und auf das 19. Jahrhundert fixiert: Man studierte also Älteres, um das Neuere, sprich Bessere zu verstehen. Als ich dann 1979 nach Berlin zum SFB kam, wurde ich beauftragt, mich bevorzugt der Alten Musik zu widmen. Zu diesem Zeitpunkt gab es dann schon eine beträchliche Anzahl von lebendigen Produktionen, etwa von Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt, von Jordi Savall und David Munrow, vom Collegium Aureum und vom Clemencic Consort und vielen anderen mehr.

 

Vergleicht man die Aufnahmen von damals mit heutigen, dann klingt es schon recht verschieden...

... wahrscheinlich spielt man heute die Instrumente besser. In den 70er Jahren gab es einfach noch nicht so viele Musiker, die hervorragend Zink oder Naturtrompete spielen konnten. Außerdem ist es eine Frage des Instrumentenbaus: Heute spielt man kaum noch auf Originalen, sondern in erster Linie auf Rekonstruktionen oder Kopien. Nachgebaut werden dabei seltener konkrete Instrumente, sondern man baut eher im Stil einer bestimmten Region und Zeit. Dadurch sind auch gewisse Manipulationen im Klang möglich.

 

Immer häufiger hört man Alte Musik in historischer Aufführungspraxis auch auf modernen Instrumenten. Was ist davon zu halten?

Zunächst einmal muss der Begriff des modernen Instruments relativiert werden: Sämtliche Instrumente, die wir heute als modern bezeichnen, waren spätestens in den 1920er Jahren ausentwickelt. Damit sind diese Instrumente nicht gerade neu. Einige Streicherensembles spielen heute auf konventionellen Instrumenten barocker als die Spezialensembles auf ihren barocken Instrumenten. Bei Bläsern verhält es sich schon wieder anders, eine barocke Oboe ist tatsächlich nicht durch ein konventionelles Instrument zu ersetzen. – Und hier sind wir wieder bei einer ästhetischen Diskussion: Man kann natürlich nach Belieben Bach auf dem Synthesizer spielen oder Mozart auf einem modernen Konzertflügel – dabei erhält man aber eine klangliche Bearbeitung. Das, was man hört, hat nichts mehr mit dem zu tun, was der Komponist im Ohr hatte und was letztendlich die Komposition mit geformt hat.

 

Eine Beschäftigung mit historischer Aufführungspraxis ist also unumgänglich?

Historische Musik umfasst nicht nur das, was auf dem Notenblatt steht, sondern auch die zeitlichen Umstände, Praktiken und Klangvorstellungen, die das, was auf dem Blatt steht, mitgeprägt haben. Insofern ist es ein ästhetisches Postulat, sich umfassend zu informieren und auf dieses Wissen über historische Aufführungspraxis zurückzugreifen.

 

Bevorzugen Sie beim Hören Alter Musik das Live-Konzert oder lieber Tonträger?

Vor zwei oder drei Jahrzehnten noch gab es reine Studioensembles, die sich nur auf die Schallplattenproduktion konzentriert haben. Das waren die Zeiten, als man auf diesem Sektor noch Geld verdienen konnte. Heute kann das Geld fast nur noch mit Konzerten verdient werden. Das führt dazu, dass die Musiker heute live genauso gut sind wie im Studio. Ich bin dennoch der Überzeugung, dass Alte Musik im Sinne der wiederentdeckten Musik, deren ursprüngliche Funktion verlorengegangen ist, heute am besten auf Tonträgern vermittelt werden kann. Wenn man diese Musik zu Hause hören kann, dann kann man sie sich wieder zum Bestandteil seines Lebens machen und ist nicht auf die feste Form des bürgerlichen Konzertes angewiesen.

 

Bei Festival zeitfenster gestalten Sie mit dem Vocalconsort Berlin ein Gesprächskonzert. Ist das ein guter Kompromiss?

Das kann ein gangbarer Weg sein, wenn man sich genau abstimmt und die Sphären Wort und Musik gleichberechtigt gegenüberstehen. Allerdings muss klar sein: Wenn die Musik von sich aus kein klangliches Faszinosum darstellt, dann kann man noch so viel darüber reden und es wird einem nicht gelingen, sie den Hörern nahezubringen. Wenn sie aber klanglich beeindruckt, dann kann man mit einer Moderation oder einem Gespräch die historische Distanz zwischen der ursprünglichen Funktion und der heutigen völlig anderen Hörsituation überwinden.

 

Ist durch Gesprächskonzerte ein intensiverer Zugang zur Musik möglich?

Der primäre Zugang zur Musik erfolgt aufgrund ihrer affektiven Substanz immer noch durch das spontane Hören ohne erklärende Worte. Allerdings ist das Apperzeptionsvermögen des Menschen so angelegt, dass er sich nicht ausschließlich mit der klanglichen Gestalt der Musik zufrieden gibt, sondern sich auch für den intellektuellen Aspekt interessiert. Besonders bei Musik, die einem nicht so eng vertraut ist, stellen sich Fragen nach den Hintergründen, nach den Entstehungsumständen und nach der Aufführungspraxis. Hier kann eine Moderation helfen, Musik besser stilistisch und zeitlich einzuordnen und etwaige Hemmschwellen beim Zugang abzubauen. Das heutige Musikangebot insgesamt gleicht ja einer riesigen babylonischen Sprachverwirrung. Auf Tonträger haben wir alle nur denkbare Musikrichtungen der abendländischen Kultur zur Verfügung, es gibt einen riesigen Markt der außereuropäischen Musik, diverse Cross-over-Projekte und vieles mehr. Positiv gesehen, kann sich jeder seine Lieblingsmusik heraussuchen; negativ gesehen, kann nicht jeder alles mögen. Daher gibt es in jedem Konzert auch Ressentiments unter den Zuhörern, die man wiederum mit Erklärungen und Gesprächen überwinden kann.

 

Was stört Sie an der konventionellen Konzertform bei der Aufführung Alter Musik am meisten?

Neben den oftmals zu großen Konzertsälen sind es vor allem die häufigen Auf- und Abtritte der Musiker, die auf mich merkwürdig wirken. Im »Ancien Regime« waren die Musiker die ersten im Saal oder in der Kirche, und als letztes zog unter Applaus der König, Bischof, Fürst oder Hofstaat ein. Heute sind es die Musiker. Diese Darbietungssituation könnte in kleineren Räumen umgangen werden, wenn etwa die Musiker sich schon im Raum befinden, sich mit dem hereinkommenden Publikum unterhalten und dann irgendwann zwanglos mit dem Musizieren beginnen. Somit würde die Distanz zwischen Interpreten und Hörern vermindert, und es käme möglicherweise zu interessanten Gesprächen.

 

Wie kann sich die Alte Musik in Zukunft vor einer zu starken Etablierung bewahren und weiter Publikum bekommen?

Die Konzentration auf die Musik sollte schon im Mittelpunkt stehen. Es ist ein riesiges Repertoireangebot vorhanden, ebenso existieren gute Werbestrategien, so dass das Publikum nicht ausbleiben sollte. Eine Untersuchung hat kürzlich übrigens ergeben, dass die Alte Musik ein deutlich jüngeres Publikum besitzt: Bei einem Vergleich zwischen dem Lucerne Festival und den Tagen Alter Musik Regensburg lag die Differenz des Altersdurchschnitts bei etwa 20 Jahren. Wenn man eine neue Art der Musikvermittlung präsentiert, dann muss man davon überzeugt sein und dies mit großer Begeisterung vertreten: »Wer Ohren hat zu hören, der höre«.